3. Kapitel

 

Er konnte den Salzgehalt der Luft beinahe schmecken. Mikhail ließ seinen Blick übers Wasser schweifen. Mitja wand sich in seinen Armen. Er tätschelte dem kleinen Sohn seiner Schwester den Rücken, wiegte ihn hin und her. Wie konnte jemand diesem Kind etwas antun wollen? Mikhail begriff es einfach nicht.

Etwas mehr als zwei Jahre waren vergangen, seit er eine Wahrheit entdeckt hatte, die seine Welt auf den Kopf stellte: Vampire existierten tatsächlich.

Und nicht nur das, sie lebten mitten unter den Menschen. Nur indem sie Lügen über sich und ihre Spezies erfanden, schafften sie es, sich vor den Augen der Welt zu verbergen: Vampire vertragen keinen Knoblauch, Weihwasser verbrennt ihre Haut, sie fürchten das Kruzifix ...

Und natürlich die größte Lüge von allen: Vampire ertragen kein Sonnenlicht.

Außerdem richteten sich die Vampire nach strikten Gesetzen, die sie sich selbst auferlegt hatten, um überleben zu können. Das wichtigste lautete, dass das Trinken von Menschenblut verboten war. Sie glaubten, dass ihre Anonymität - und Unversehrtheit - auch in Zukunft nur dann gewährleistet war, wenn sie die Menschen in Ruhe ließen und Gerüchte von blutsaugenden Kreaturen der Nacht verbreiteten, die sich in Fledermäuse oder Wölfe verwandeln konnten.

Und es schien zu funktionieren.

Er, Mikhail, hatte die ersten zwanzig Jahre seines Lebens in vollkommener Ahnungslosigkeit verbracht, so wie der Rest der Menschheit auch. Bis zu jener Nacht, in der er herausfinden musste, dass seine Schwester ein Halb-Vampir war.

Sein Blick fiel auf das kleine Mädchen in Kirils Armen. Catherine, oder Katja, wie er sie nannte, war erst sieben Monate alt, aber schon jetzt eine richtige Schönheit mit den blassgrünen Augen ihrer Mutter und dem gewinnenden Lächeln ihres Vaters.

Es war fast unmöglich zu glauben, dass dieses kleine Mädchen, ebenso wie seine Mutter, Mitja und Angelica, eine »Auserwählte« war: ein Halb-Vampir. Und nun hatte eine Gruppe von Vampiren, die sich die »Wahren Vampire« nannte, beschlossen, sie alle auszulöschen.

»Ob ihnen kalt ist?«, überlegte Kiril neben ihm unsicher. Mikhail rang noch immer mit dem kleinen Mitja, der auf seinen Armen herumhopste, als wolle er runterspringen. Mit fünfzehn Monaten war Mitja seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten - bis auf die Mandelaugen, die er von Angelica geerbt hatte.

Mikhail fühlte Mitjas Stirn. Sie war warm, aber was hieß das schon? Vielleicht war ihm ja trotzdem kalt.

»Ich weiß nicht«, gestand er frustriert. Er hatte doch keine Ahnung von Babys! »Vielleicht sollten wir wieder reingehen, nur zur Sicherheit?«

Kiril, der genauso wenig Erfahrung mit Kindern hatte, nickte. Beide Männer hatten ein Kindermädchen mitnehmen wollen, aber die Clanoberhäupter hatten aus Sicherheitsgründen davon abgeraten. Das Kindermädchen sollte erst eingestellt werden, wenn sie ihr Ziel in Süditalien erreicht hatten. Auf diese Weise bräuchten sie sich wenigstens nicht um eine weitere Person zu sorgen. Oder sie verdächtigen ... Dies waren unsichere Zeiten, in denen man nicht wusste, wem man vertrauen konnte und wem nicht.

Mikhail nahm Mitja fester in die Arme und wollte sich gerade umdrehen, um das Deck zu verlassen, als eine laute Frauenstimme an sein Ohr drang.

»Schnell, schnell, Sie müssen von hier verschwinden!«

Angespannt fuhr er herum und musterte die Frau, die auf sie zugestürzt kam. Eine Waffe schien sie nicht zu besitzen, jedenfalls keine, die zu sehen war. Kiril reichte ihm Katja und trat einen Schritt vor, um die offensichtlich hysterische Frau abzufangen. Sie versuchte sich von Kiril loszureißen. Ihre honigbraunen Augen richteten sich flehend auf Mikhail.

»Sie werden gleich da sein! Sie dürfen keine Zeit verlieren!«

Mikhail schaute sich um, aber abgesehen von einem halben Dutzend Passagieren, die entspannt übers Deck schlenderten, konnte er nichts entdecken. Einige warfen ihnen bereits neugierige Blicke zu. Na großartig, dachte er. Sie erregten Aufmerksamkeit, und das war das Letzte, was sie im Moment gebrauchen konnten.

»Es ist keiner von uns an Bord, das weiß ich ganz genau«, sagte Kiril und bemühte sich, die aufgebrachte Frau fest

zuhalten. Also keine Vampire, dachte Mikhail. Er fand es beinahe schade, dass eine so schöne Frau so offensichtlich den Verstand verloren hatte.

»Bei Achilles' Riesenfüßen, ich bin nicht verrückt!«, rief sie, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Wenn Sie nicht gleich von hier verschwinden, werden die Kinder sterben!«

Mikhails Miene verhärtete sich. Er gab Katja an Kiril zurück und packte mit seiner freien Hand die Frau. Sie war ganz offensichtlich verrückt, aber er wollte kein Risiko eingehen. Es konnte kein Zufall sein, dass, nur einen Tag nachdem die Kinder so knapp einem Mordanschlag entgangen waren, nun eine Verrückte auftauchte, um sie vor einem Angriff auf die Kinder zu warnen. An derartige Zufälle glaubte Mikhail nicht.

»Wohin?«, fragte er rasch und packte die Frau fester. Sie zuckte zusammen, wehrte sich aber nicht und zog ihn rasch vom Vorderdeck fort, zum Heck des Schiffes.

»Es sind sechs, soviel ich weiß. Sie haben Dolche, vielleicht auch Pistolen. Sie wollen die Kinder umbringen und Sie auch!«

Mikhail ließ die Frau los und nahm nun auch das zweite Kind. »Kiril, geh zurück und schau nach, ob da jemand ist«, befahl er.

Kiril nickte, nicht ganz überzeugt.

»Warten Sie«, sagte die Frau zu dem Vampir, der Anstalten machte zu gehen. »Derjenige, der wie der Anführer aussieht, hat Stiefel mit einer roten Paspelierung. Der Griff seines Dolchs ragt daraus hervor, er ist nicht zu übersehen. Alle anderen sind dunkel gekleidet. Eine Frau ist auch darunter.«

Kiril verschwand.

Mikhail fühlte sich zunehmend unbehaglicher. Die Genauigkeit, mit der sie ihre Angreifer beschrieb, ließ die drohende Gefahr fast real erscheinen. Auch hatte er das Gefühl, dass sie es ehrlich meinte. Wie auch immer, er durfte nichts riskieren.

Rasch trat er an die Reling und blieb neben einem festgezurrten Rettungsboot stehen. Die Frau schien von Minute zu Minute nervöser zu werden.

»Hier, halten Sie sie kurz«, befahl er und übergab ihr die Kinder. »Wenn Sie ihnen etwas antun, werden Sie das mit dem Leben bezahlen.«

Ein panischer Ausdruck huschte über ihre Züge, aber sie sagte nichts. Rasch knüpfte Mikhail die Seile los, mit denen die Jolle festgemacht war.

»Was tun Sie da?«, fragte die Frau mit zitternder Stimme. Mikhail machte Anstalten, das Boot ins Wasser zu lassen.

»Für einen Fluchtweg sorgen, falls wir einen brauchen«, antwortete er knapp.

»Mikhail!«

Kiril kam angerannt und packte zwei der Seile. »Die Frau hatte recht. Wie bekommen wir die Kinder ins Boot?«

Mikhails Handflächen brannten. Er überlegte kurz, während er die Seile weiter hielt. Das Boot hing jetzt nur noch wenige Meter über dem Wasser. Er hob den Kopf und sah die Frau an.

»Los, klettern Sie ins Boot.«

Die Frau wich angstvoll einen Schritt zurück, doch Mikhail starrte sie weiter durchdringend an. Sie musste ihm jetzt einfach gehorchen, sie hatten keine Zeit zu verlieren. Und keine andere Wahl, als sie mitzunehmen, wer auch immer sie sein mochte. Sie hatte sie vor der drohenden Gefahr gewarnt, um der Kinder willen. Die Kinder schienen also ein gutes Druckmittel zu sein, und er scheute sich nicht, es einzusetzen. »Wollen Sie, dass sie sterben?«

»Ach, bei Thors Streitaxt!«

Verblüfft über diesen bizarren Ausbruch sah Mikhail, wie sie kurz die Augen schloss und sich dann in Bewegung setzte.

»Wie soll ich ins Boot klettern, wenn ich die Kinder auf dem Arm habe?!«

Mikhail nickte Kiril zu, der daraufhin die Seile ergriff, und nahm ihr die Kinder ab.

»Schnell, steigen Sie ein. Ich werde Ihnen die Kinder herunterreichen.«

Sie kletterte über die Reling, wobei ihre schlanken Waden unter ihren Röcken zum Vorschein kamen. Mikhail versuchte, nicht allzu auffällig hinzustarren. Dafür war jetzt weiß Gott keine Zeit!

»Aber wie soll er das Boot ganz allein halten, wenn ich es auch noch mit meinem Gewicht belaste?«

Sie schaute zu Kiril hinauf. Eine vernünftige Frage - zumindest für jemanden, der nicht wusste, dass Kiril ein Vampir war und übermenschliche Kräfte besaß.

»Jetzt steig schon ein, Frau!«

Sie sprang ins Boot und streckte die Arme hoch. Mikhail reichte ihr zuerst Katja, dann Mitja hinunter. Dann trat auch er wieder an die Seile. Zusammen mit Kiril ließ er das Boot so sanft wie möglich hinab. Übermenschliche Kräfte oder nicht, allein hätte Kiril das Boot nicht im Gleichgewicht halten können.

Gerade als die Jolle in den Wellen aufkam, ertönte vom Vorderdeck her ein Ruf.

Das Boot schlug klatschend im Wasser auf und wurde vom Schiff mitgezogen. Mikhail beugte sich über die Reling und rief der Frau zu: »Nehmen Sie die Ruder, und rudern Sie ein Stück vom Schiff weg, wir machen die Leinen los!« Die Jolle tanzte auf der vom Schiff aufgewühlten Gischt. Zufrieden sah Mikhail, wie die Frau die Kinder im Bauch des Boots ablegte und nach den Rudern griff.

»Mikhail!«, rief Kiril drängend. Ihre unerwünschten Gäste waren fast da.

»Lass die Seile los!«, rief er und folgte auch sogleich seinem eigenen Befehl. In diesem Moment tauchte der erste Angreifer auf. Der Bastard stach mit dem Dolch auf ihn ein! Mikhail wich in letzter Sekunde aus, und das Messer schoss knapp an seiner Schulter vorbei. Dann gelang es ihm, dem Schurken den Dolch aus der Hand zu schlagen. Kiril neben ihm kämpfte mit zwei Männern auf einmal. Einer davon stieß gerade einen Schmerzensschrei aus. Mikhail duckte sich, schlug zu und wandte sich dann dem nächsten Angreifer zu.

Wütend stürzte er sich auf ihn. Diese Halunken, sie wollten die Kinder ermorden! Mikhail rollte mit seinem Gegner übers Deck. Dabei gelang es ihm, dem Mann einen Kinnhaken zu versetzen. Ihm wurde klar, dass er stärker war als diese Männer. Das waren keine Vampire! Und das jahrelange Sparring im Gentlemen's Club schien sich nun auszuzahlen. Mikhail kämpfte wie entfesselt.

Wenige Augenblicke später hatte er seinen Gegner bewusstlos geschlagen. Er blickte auf und sah, dass fünf weitere auf sie zustürzten. Ein Blick auf Kiril überzeugte ihn davon, dass dieser noch nicht einmal schwer atmete und nur auf den nächsten Kampf zu warten schien. Der Vampir würde mit Leichtigkeit mit ihren Gegnern fertig werden; er selbst musste sich jetzt um die Frau und die Kinder kümmern.

»Kiril, komm nach, sobald du kannst!«, rief Mikhail ihm zu, dann machte er einen Hechtsprung ins Meer.

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